Kaum zwei Jahrzehnte nachdem Howard Carter das prachtvolle Grab des ägyptischen Pharaos Tut-Ench-Amun geöffnet hatte, brachte die englische Firma Allcocks eine rätselhafte Köderserie auf den Markt – den Nevison Minnow.
Im Katalog des Jahres 1939 präsentierte die damals größte Angelgeräte-Firma der Welt mit ihren „Nevison Minnows“ eine regelrechte Sensation: Kunstköder nicht wie üblich aus Blech oder Holz, sondern aus Fisch! „Ein mumifizierter, echter Köderfisch“, schwärmte die Fachzeitschrift „The Field“ in den höchsten Tönen. Doch lassen wir die überschwänglichen Allcocks-Katalogschreiber von 1939 zu Wort kommen: „Wir können kaum unseren Enthusiasmus unterdrücken, noch uns den Gebrauch von Superlativen verkneifen. Wir haben das Vergnügen, Ihnen eine Erfindung vorzustellen, die das Spinnfischen revolutionieren wird!“ Große Worte!
Im ersten Jahr konservierte Allcocks nur kleine Weißfische, Sprotten und Krabben mit ihrer neuen Methode für die Ewigkeit. Zeitgleich experimentierten im riesigen Werk der Weltfirma in Redditch zahlreiche Arbeiter mit Gründlingen, Sandaalen und sogar Fröschen. Jedes erdenkliche Ködertier sollte für den langjährigen Anglergebrauch unsterblich gemacht werden. Zu diesem Zweck wurde sogar eine eigene Abteilung gegründet, ein eigener Arbeiter-Stab abgestellt. Zarte Frauenhände pinselten kleinen Weißfischchen kunstvoll ein Forellenkleid – ein Notbehelf, denn auch damals hatten die edlen Salmoniden schon ein Mindestmaß. Jungforellen durften nicht mumifiziert werden.
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Doppeltes Lottchen: Der Nevison Minnow vereint die Vorteile von Natur- und Kunstköder. |
Den Anglern abgeschaut
Vor der Erfindung der Nevison-Köder wurden vor allem kleine Köderfische an Spinnsystemen zum Raubfischangeln eingesetzt. Die Verwendung von Blinkern, Spinnern oder Wobblern war eher die Ausnahme. Kühltruhen zum Einfrieren von Köderfischen waren äußerst selten und in Anglerhaushalten nicht weit verbreitet. Deshalb wurden die Fischchen in Formalin eingelegt, um sie zu konservieren.
Die übel riechenden und an den Fingern brennenden Fischchen im Einmachglas sind vielen sicher noch aus den anglerischen Anfangsjahren bekannt. Manche Angler kandierten ihre Köfis sogar mit Zucker, um sie irgendwie auch nur halbwegs haltbar zu machen. Andere trockneten ihre Köderfische und pinselten sie mit Klarlack an – auf dieser Technik baute die Allcocks-Erfindung auf.
Die neue Nevison-Köderserie war ein voller Erfolg. Noch in den 60er Jahren wurden die mumifizierten Köderfische vertrieben. Der Allcocks-Katalog von 1962 gibt einen kleinen Einblick in das geheimnisvolle Herstellungsverfahren: „Der Nevison besteht aus einem natürlichen Lebewesen, das erst gefärbt und dann mit einem Überzug aus unzerbrechlichem Zellulose-Lack umhüllt wurde. So viel darf jeder wissen. Die Rezeptur, die aber das Fischchen unter der Lackschicht konserviert, ist ein Firmengeheimnis von Allcocks. Nur durch unser Herstellungsverfahren wird das lebensechte Aussehen des Köders garantiert. Er bietet alle Vorteile eines frisch getöteten Naturköders, aber ohne dessen Nachteile.“
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Welt-Premiere: 1939 tauchten die Nevison Minnows in einem Allcocks-Katalog zum ersten Mal auf. |
Für Fisch und Pharao
Hatten sich die Entwickler der Nevison-Köder die Kunst des Einbalsamierens bei den alten Ägyptern abgeschaut? Carters Entdeckung des Pharaos Tut-Ench-Amun im Tal der Könige löste in England eine regelrechte Ägyptomanie aus: Reiche Lords kauften sich Mumien auf dem Schwarzmarkt und feierten skurrile Auswickel-Partys. Gänsehaut garantiert!
Das Allcocks Geheim-Rezept für die Einbalsamierung der Köderfische ist verloren gegangen. Nur eines ist sicher, dass wir diese Köder heute als Sammler mit Vorsicht behandeln müssen: Denn damals gehörten heutzutage verbotene, hochgiftige Konservierungsmittel zur täglichen Praxis. Zum Einbalsamieren von Leichen wurden gerne Arsen, Karbolsäure und Chlorzink verwendet. Also: Händewaschen nicht vergessen!
Kennen Sie das Geheim-Rezept der Allcocks Mumien? Dann melden Sie sich bei:
thomas.kalweit@paulparey.de, Telefon 02604/978-175. Im Heft 3/2006 stellt Ihnen Thomas Kalweit den „besten Köder aller Zeiten“ vor: das Gespenster-Fischchen, auch Phantom genannt.